Das Gesundheitssystem hat ein Problem. Die Lösung ist eine starke Primärmedizin.
15.11.2024Interview mit Prof. Dr. Anne Simmenroth und Prof. Dr. Ildikó Gágyor zum Abschluss des 58. Kongress für Allgemeinmedizin und Familienmedizin der DEGAM in Würzburg.
Fast 400 eingereichte Abstracts, über 350 Kongressbeiträge, rund 1.000 Teilnehmerinnen und Teilnehmer sowie hunderte Referentinnen und Referenten aus Wissenschaft und Praxis. Schon im Vorfeld war von Rekorden die Rede. Sind Sie mit dem DEGAM-Kongress in Würzburg zufrieden?
Anne Simmenroth: Ja, wir sind sehr zufrieden. Nicht nur wegen der hohen Zahl an Teilnehmenden. Es waren tatsächlich 978 Besucherinnen und Besucher aus ganz Deutschland, aus allen Berufen und Altersgruppen. Auch die Stimmung war sehr gut. Wir haben schon während des Kongresses und danach sehr viele positive Rückmeldungen bekommen, dass es ein besonderer und auch ein anderer Kongress war.
Was war das Besondere an dem Kongress?
Ildikó Gágyor: Unser gesamtes Team war sichtbar, nicht nur wir als Kongresspräsidentinnen. Alle Teammitglieder waren aktiv an der Gestaltung des Programms und der Durchführung beteiligt, so dass der Kongress einen schönen Stempel von unserem Institut erhielt. Man hat sicherlich auch unsere Handschrift beim Programm gemerkt. Wir haben darauf geachtet, dass die Frauen sichtbarer waren, sie zu Vorträgen und Key Lectures eingeladen. Zudem hatte der Kongress ein tolles Lokalkolorit: vom Veranstaltungsort, der Neuen Universität am Sanderring, über das Essen mit regionalen Spezialitäten und Würzburger Wein bis hin zu den fränkischen Sprüchen in Lautschrift, mit denen jeder Morgen begann.
Anne Simmenroth: Außerdem haben das „atmosfair-Siegel“ für die Klimafreundlichkeit erhalten. Alle Teilnehmerinnen und Teilnehmer brachten zum Beispiel ihre eigenen Trinkflaschen mit, die sie an eigens aufgestellten Wassertanks auffüllen konnten. Wir hatten kein verpacktes Essen. Und es gab keine Kongresstaschen, die mit vielen unnötigen Dingen gefüllt waren.
Einen weiteren regionalen Bezug haben Sie mit dem Seminar „Reflective Practitioner“ im Rahmen des Projekts „Das Leere Sprechzimmer“ geschaffen, welches seit einigen Jahren Bestandteil jedes DEGAM-Kongresses ist und an die ärztlichen Opfer der NS-Diktatur erinnert.
Ildikó Gágyor: Die Studierenden haben sich intensiv mit historischen Biografien beschäftigt und sich emotional damit auseinandergesetzt. Diese ethische Reflexion hinterlässt natürlich Spuren und wirft neue Fragen für die Zukunft auf, vor allem für das ärztliche Selbstverständnis.
Anne Simmenroth: Unsere Studierenden waren sehr angetan und haben regelrecht eine Fortsetzung gefordert, also das Thema noch weiteren Studierenden zugänglich zu machen.
Hinweis der Redaktion: Weitere Informationen zum Leeren Sprechzimmer finden Sie auf der Webseite der DEGAM.
Für die Eröffnung des diesjährigen DEGAM-Kongresses haben Sie bewusst ein diskursives Format gewählt. Statt verschiedener Grußworte gab es eine Podiumsdiskussion. Hat dieses Format Ihren Wunsch nach einem knackigen Einstieg in das wissenschaftliche Programm erfüllt?
Anne Simmenroth: Auf jeden Fall. Wir haben sehr kontrovers diskutiert. Zum Beispiel über das Weiterbildungssystem in Deutschland. Wir haben noch eine zu niedrige Weiterbildungsquote in der Allgemeinmedizin, trotz langjähriger finanzieller und struktureller Förderung. Es gibt in Deutschland einen wirklich großen Reformbedarf. Den müssen wir angehen. Dabei hilft der internationale Blick, denn viele Länder sind wesentlich besser aufgestellt als wir.
Ildikó Gágyor: Eine Studie des IGES Instituts für den GKV-Spitzenverband hat gezeigt, dass wir von den Erfahrungen unserer Nachbarländer lernen könnten. Die Niederlande, Belgien, Frankreich, Österreich und die Schweiz haben vergleichbare Gesundheitssysteme und stehen vor ähnlichen Herausforderungen wie wir: Viele Hausärztinnen und Hausärzte kurz vor dem Ruhestand und beim hausärztlichen Nachwuchs ein ausgeprägter Trend zur Teilzeitanstellung.
Frau Simmenroth, als Mitglied der European Academy of Teachers in General Practice and Family Medicine (EURACT) haben Sie einen noch tieferen, praktischen Einblick in die Weiterbildungssysteme anderer europäischer Länder. Was machen die anders?
Anne Simmenroth: Die meisten europäischen Länder kontingentieren zum Beispiel die Facharztausbildungen, man muss sich für die Fachgebiete bewerben und wird auf Listen gesetzt. Diese Steuerung ist hier ein „rotes Tuch“. Aber wir müssen planen. Sonst gibt es eines Tages unendlich viele Neurochirurginnen und Neurochirurgen, aber keine Geriaterinnen und Geriater. Schon heute gibt es viele Praxen mit angestellten Ärztinnen und Ärzten, die zu viele individuelle Gesundheitsleistungen (IGeL) anbieten, aber in der Primärversorgung fehlen. Dieses System muss besser ausbalanciert werden.
Eine Keynote Lecture befasste sich mit dem Thema „Gesundheitssystem im Wandel - Chancen und Herausforderungen für die Allgemeinmedizin“. Welche sind das?
Anne Simmenroth: Unsere Kollegin Prof. Dr. med. Stefanie Joos aus Tübingen hat einen tollen „Blick von oben geliefert“ und auch ihr Fazit lautete: Das System stößt an seine Grenzen. Wir brauchen einen Systemwechsel, nicht nur in der Allgemeinmedizin. Wir brauchen zum Beispiel dringend die elektronische Patientenakte und definierte Schnittstellen. Denn die Patientenströme sind völlig ungesteuert und verursachen permanent Kosten. Die Kosten im Gesundheitswesen steigen ständig. Dabei wissen wir aus internationalen Studien, dass Primärarztsysteme die Kosten dämpft. Die Kosten sinken, aber die Versorgung wird nicht schlechter, sondern sogar besser. Es gibt zum Beispiel weniger Doppel- und Fehldiagnostik beziehungsweise Therapie, und alle Informationen werden an einer Stelle zusammengeführt.
Ildikó Gágyor: Die Lösung ist eine starke Primärversorgung. Die Allgemeinmedizin und die Pädiatrie müssen gestärkt werden. Das funktioniert anderswo, und deshalb würde es sicher auch hier funktionieren.
Was sollte sich aus Sicht des medizinischen Nachwuchses ändern? Durch die Fishbowl-Methode kamen bei der Podiumsdiskussion immer wieder neue Stimmen zu Wort, auch von Studierenden.
Ildikó Gágyor: Das Bedürfnis, über die Reform zu sprechen, war groß. Wir hatten vor der Bühne sogar eine Riesenschlange, weil immer mehr Leute, vor allem junge Leute, aufs Podium wollten. Laura Lunden, eine Ärztin in Weiterbildung, die die Junge Allgemeinmedizin Deutschland (JADE) auf dem Podium vertrat, fasste die Wünsche zusammen: Work-Life-Balance und Zeit für die Familiengründung. Sie sind gegen Zwang und wollen ihre Fachrichtung weiterhin selbst wählen können.
Anne Simmenroth: Sie kennen es auch nicht anders. Genauso wie Patientinnen und Patienten sich ihre Ärztinnen und Ärzte in Deutschland frei aussuchen. Das ist in 90 Prozent der europäischen Länder indiskutabel. Hierzulande denkt man immer gleich an Fremdbestimmung und Freiheitsberaubung. Umgekehrt muss man aber sehen, dass die Behandlung von Husten, Schnupfen, Heiserkeit in Deutschland ein Vielfaches an Zeit und finanziellen Ressourcen verbraucht wie in anderen Ländern.
Die Allgemeinmedizin ist eigentlich sehr attraktiv, vor allem im Hinblick auf die Work-Life-Balance. Warum hat sie trotzdem ein Nachwuchsproblem?
Ildikó Gágyor: Wir haben zwar immer mehr junge Leute, vor allem Frauen, die sich für die Allgemeinmedizin entscheiden, aber es sind nicht genug. Hinzu kommt, dass viele in Teilzeit arbeiten und lieber angestellt bleiben, als das unternehmerische Risiko einer Niederlassung einzugehen. Auf dem Land kommen weitere Gründe hinzu, wie eine schwächere Infrastruktur und mangelnde Kinderbetreuung.
Anne Simmenroth: Die Einzelpraxis stirbt in allen Fächern aus, auch bei den Hausärztinnen und Hausärzten. Das ist kein Zukunftsmodell mehr.
Wie sieht für Sie die allgemeinmedizinische Praxis der Zukunft aus?
Ildikó Gágyor: Sie wird auf jeden Fall größer sein. Es wird mehr Kompetenz gebündelt. Verschiedene Schwerpunkte wie zum Beispiel Geriatrie, Diabetologie und Palliativmedizin aber auch andere Berufe wie Pflege, Psychotherapie, Physiotherapie, Sozialarbeit unter einem Dach wären sicher von Vorteil.
Anne Simmenroth: Ich war gerade mit EURACT in Montenegro. Ein winziges Land mit einem tollen Primärarztsystem. In einem Gesundheitszentrum in einer Kleinstadt gab es neben dem Hausarzt noch eine Hebamme und einen Zahnarzt, ein Labor, eine Physiotherapie und eine Sozialarbeiterin!
In anderen Ländern haben aber auch Nurses und Medizinische Fachangestellte einen größeren Handlungsspielraum.
Anne Simmenroth: Das wäre auch noch ein wichtiger Aspekt für die Praxis der Zukunft. Wir müssen die Pflegekräfte noch mehr qualifizieren, als das jetzt schon der Fall ist. Im übrigen Europa sind Konsultationen durch Nurses ganz normal, hierzulande ist das ebenfalls ein rotes Tuch. Aber mal ehrlich, wir müssen als Ärztinnen doch nicht von unseren fünf Stunden Vormittagspraxis zwei Stunden mit Krankschreibungen wegen Schnupfen verbringen. Das ist wirklich eine Verschwendung von Ressourcen.
Neben der Forschung und Lehre arbeiten Sie beide einen Vormittag pro Woche in einer allgemeinmedizinischen Praxis in Würzburg.
Ildikó Gágyor: Ja, und unsere Ressourcen sind für kompliziertere Fälle gedacht, bei denen zum Beispiel mehrere gesundheitliche Probleme behandelt werden müssen, das Fieber nicht sinkt, die aufgrund einer Depression verzweifelt sind oder ein komplexer Fall mit einer schweren Erkrankung oder nach einem großen Eingriff aus dem Krankenhaus entlassen wird und zu Hause versorgt werden muss. Diese Patientinnen und Patienten benötigen mehr Aufmerksamkeit.
Was kann der Kongress hinsichtlich der notwendigen Systemänderungen bewirken?
Anne Simmenroth: Solche Kongresse, unser Kongress jedenfalls, sind immer ein Beschleuniger für solche Ideen, die in Podiumsdiskussionen, Key Lectures, Workshops und Pausengesprächen evidenzbasiert thematisiert werden. Sie sollen ins Land diffundieren, und das tun sie auch.
Ildikó Gágyor: Wir sind sozusagen Vorreiter.
Das Interview führte Kirstin Linkamp / UKW